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Das gab es in der württembergischen Landeskirche so bislang noch nie: ein Pfarrer, der in einer Person eine Kirchengemeinde und die Gemeinde eines großen Diakonischen Trägers der Behindertenhilfe begleitet. Dieser Tage ist Pfarrer Matthias Wanzeck hierfür in Kernen-Stetten bei Stuttgart genau dafür eingesetzt werden. Von einem „Wind of chance“, also einem wirklichen Wechsel in Richtung gelebter Inklusion im gemeinsamen Quartier Stetten war die Rede. Und von einer spannenden Herausforderung für die Menschen in der Diakonie Stetten und den Mitgliedern der örtlichen Kirchengemeinde.
Wir geben hier die Predigt von Pfarrer Wanzek im Wortlaut wider: „Liebe Gemeinde, manchmal sind ja Kleinigkeiten der Sprache sehr aufschlussreich. Zum Beispiel, wie man so eine Anrede in der Predigt formuliert. Ab und an hört man von der Kanzel in etwa folgende Begrüßung: Liebe Tauffamilie, liebe Konfirmand*innen, liebe Gemeinde… Oder übertragen auf den heutigen Gottesdienst: Liebe Bewohner*innen der Diakonie, liebe Mitarbeitende, liebe Gemeinde….
Wer ist eigentlich „die“ Gemeinde?
Mit dieser freundlichen Begrüßung versucht man möglichst viele Personengruppen anzusprechen, die heute zum Gottesdienst versammelt sind. Interessant wird es bei der letzten der genannten Gruppen. Der „Gemeinde“. Sie ist ja der Dreh- und Angelpunkt einer christlichen Gemeinschaft. Aber wer ist „die Gemeinde“, die ich als Pfarrer, als Prediger, als Kirchengemeinderätin, als Dekan im Sinn habe. Wer gehört da alles dazu? Wen habe ich da im Blick? Wen stelle ich mir vor, wenn ich dieses Wort ausspreche? Und gibt es in dieser „Gemeinde“ Abstufungen? Gibt es einen Kern und eine Peripherie? Ein draußen und ein drinnen? Wen würden wir uns heutzutage schon gar nicht mehr trauen, als „Gemeinde“ anzusprechen? Und wen sprechen wir vielleicht nicht als Gemeinde an, der da im besten Sinne dazugehört?
In einer Fortbildung vor der Coronazeit hat uns der Landespfarrer für die Konfirmandenarbeit dafür sensibilisiert, wie sehr wir z.B. die Konfirmandinnen und Konfirmanden, die ja manchmal ein Viertel des Gottesdienstbesuches ausmachen in unseren Formulierungen, in unserer Ansprache in unserer ganzen Haltung völlig übergehen. Vielleicht entwickeln wir auch deswegen das Bedürfnis, Sie bei der Begrüßung gesondert zu erwähnen, weil wir sie im tiefsten eben nicht als Teil der „Gemeinde“ wahrnehmen. Ähnlich vielleicht auch mit manchenTauffamilien…
Diese Frage nach drinnen und draußen, nach Kern und Peripherie der Gemeinde stellt sich uns auch deswegen, weil wir uns ja immer noch Volkskirche verstehen – auch wenn uns Teile des Volkes in den letzten Jahrzehnten abhandengekommen sind. Wir haben trotz alledem noch viele Mitglieder. Aber gehören alle auch so richtig zur Gemeinde? Diese Woche hatte ich ein interessantes Gespräch. Eine junge Frau fragte mich beim Bäcker angesichts der großen Zahl an Konfis in diesem Jahr in Stetten, ob diese denn auch alle aus der „Gemeinde“ seien? Erst habe ich die Frage nicht verstanden? Ja klar, alle aus Stetten. Nein, sie meine „aus der Gemeinde“.
Das Projekt „Inklusive Gesamtkirchengemeinde“
In dem daran entsponnen Gespräch wurde mir klar, dass die Fragestellerin aus einem freikirchlichen Hintergrund kam. Dort sind die Grenzen offenbar sehr viel klarer. Gemeinde oder nicht Gemeinde. Da ist nur dabei, wer sich voll und ganz dafür entscheidet und das auch stetig praktiziert. Die Verweildauer in solchen Gemeinden ist allerdings in manchen Fällen erstaunlich kurz: wer sich nicht mehr wohlfühlt, zieht weiter und sucht sich eine neue Gemeinde. Wer möchte, wer darf, wer soll dazugehören? Diese Frage stellt sich bei uns also ganz besonders.
Nochmal anders stellt sich die Frage nach Zugehörigkeit, nach Kern und Peripherie bei der Schlossgemeinde der Diakonie. Wer oder was ist die Schlossgemeinde eigentlich? Bei unserem Nachdenken über das Projekt für eine „Inklusive Gesamtkirchengemeinde“ stellte sich die Frage, welchen Charakter die „Schlossgemeinde“ eigentlich hat. Sie scheint in kein bekanntes Raster zu passen, eine ganz besondere Gemeinschaft zu sein. Juristisch ist sie keine „Körperschaft öffentlichen Rechts“ wie die Ortsgemeinde. Aber sie ist dennoch da und zwar schon über 150 Jahre.
Die Schlossgemeinde ist besonders vielfältig
Doch wer gehört dazu? Die Bewohnerinnen und Bewohner der Diakonie? Oder nur die aus Stetten? Oder die aus Kernen? Was ist mit den Mitarbeitenden? Und wie verhält es sich mit den Ruheständlern? Wer verkörpert „die“ Schlossgemeinde? Der Schlossgemeinderat? Oder die Pfarrerin und Diakonin, Nancy Bullard-Werner und Ulrike Stallmeister und zukünftig auch ich? Schaut man genau hin, wer da als Teil der Gemeinde zu entdecken ist, dann sprengt die Schlossgemeinde auch konfessionelle Grenze. Da sind auch römisch-katholische und orthodox Getaufte, die man zur Schlossgemeinde zählen könnte, ja die sich selbst dazu zählen. Die Schlossgemeinde ist vielfältig. Gibt es „Die“ Schlossgemeinde dann überhaupt? Doch nicht nur in Kirchengemeinden stellt sich momentan die Frage nach Zugehörigkeit. Nach drinnen und draußen. Nach Kern und Peripherie. Nach der Norm und dem Normal.
In unserer ganzen Gesellschaft ist ein wahrer Kampf entbrannt um Identitäten. An wen denke ich, wenn ich „Bürgerin“ sage. Und wer erscheint vor meinem geistigen Auge bei dem Begriff „Deutscher“. Welches Geschlecht, welches Alter, welche Haarfarbe, welche Hautfarbe hat diese Person? Die „alten weißen Männer“ sind in dieser Diskussion zu einem Symbol geworden für einen verzerrten Blick auf die Gesellschaft, der den Mainstream für eine ganze Epoche prägte. An dieser Perspektive des alten, weißen Mannes ist, so der Vorwurf, viel zu lange die Messlatte für das „normal“ angelegt worden? So galt oder gilt, wie diese alten, weißen Männern sind oder was ihnen angeblich wichtig ist als Maßstab für alle. Mit dem Mercedes über Autobahnen ohne Tempolimit fahren. Dass zu einem richtigen Essen ein großes, möglichst preiswertes Stück Fleisch gehört. Homosexualität für eine schlimme Verirrung zu halten. Ein Wertekanon, der Pflichtbewusstsein, Ordnung, Sauberkeit und Pünktlichkeit für die höchsten Tugenden der Menschheit hält. Wehe dem, wer in diesen Tagen ein alter, weißer Mann ist. Denn der wird vielleicht sagen: „so bin ich gar nicht.“
Aber keine Chance. In der Identitätsdiskussion landet jeder in einer oder in ein paar wenigen Schubladen und wird gegen „die anderen“ ausgespielt. Was für eine verrückte postmoderne Welt, könnten wir jetzt sagen. Typisch Globalisierung und multikulturelles Zeitalter. Typisch 21. Jh. Doch weit gefehlt. Eine ganz ähnliche Konfliktlage trieb schon die antike Welt des Neuen Testamentes um. Das Leitwort für meinen Investiturgottesdienst habe ich dem Galaterbrief entnommen. Einen Brief, den Paulus an die Landbevölkerung Ostanatoliens schreibt, die einem heftigen Kulturkampf ausgesetzt ist.
An einer zentralen Stelle des Briefes kommt er darauf zu sprechen, was einen Menschen, der aus seinem Glauben an Christus heraus lebt ausmacht. Paulus schreibt: Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Schubladen gab es auch damals. Und diese waren teils noch existentiellere wie die für unsere Gegenwart benannten. Ob man damals Mann oder Frau war, hatte trotz allen offenen und verdeckten Diskriminierungen heute, damals einen viel stärkeren Einfluss auf den Lebensalltag. Und Freier oder Sklave zu sein, benennt vielleicht die größte denkbare Ungerechtigkeit, die sich Menschen in ihrer Geschichte haben einfallen lassen. Die von Paulus genannten Marker waren sehr mächtige Eigenschaften, die ein Menschenleben bestimmten.
Alle Menschen sind gleich geschaffen
Aber er wischt sie alle vom Tisch. Denn der Glaube, das Vertrauen auf Jesus Christus schenkt uns große Freiheit. Eine so große Freiheit, dass wir uns nicht mehr über das, was uns von anderen Menschen unterscheidet definieren – wie Geschlecht, Volkszugehörigkeit oder gesellschaftliche Stellung – sondern über die Zugehörigkeit zu Christus, die uns mit anderen verbindet. Im Prinzip geht Paulus wieder zurück auf die Schöpfungsgeschichte. Die Menschen sind gleich geschaffen und wie sie sind sogar ein Bild Gottes. Alle Ungleichheiten die Kultur- und Menschheitsgeschichte hervorgebracht haben erklärt er für nichtig. Mit Christus stehen wir wieder direkt vor Gott. Unter allen, die da mit Christus stehen gibt es keinen Kern und keine Peripherie. Kein oben und unten, kein innen und außen.
Die Ordnungen, die sich Menschen in ihrer Geschichte ausgedacht und etabliert haben sind so mächtig, dass diese simple Aussage von Paulus ein richtiger Hammer ist. Sie hat, besser hätte die Macht, all diese Ordnungen zerbröseln zu lassen. Aber so ist es nicht gekommen. Und auch mehrere Jahrtausende und Menschenrechtserklärungen später harrt dieser Anspruch von Paulus weiter der Verwirklichung. Dabei formuliert Paulus hier nichts anderes als den Anspruch einer inklusiven Gemeinde. „Für eine Welt, in der niemand mehr ausgegrenzt wird.“ So formuliert die Diakonie Stetten diesen Anspruch in ihren Worten.
Und konfrontiert uns mit den Paradoxien unserer Zeit. Denn wer würde diesen Satz nicht unterschreiben? Natürlich soll niemand ausgegrenzt werden! Eigentlich. Aber dann begegnen uns solche Ausgrenzungen doch an jeder Ecke, mitten im Leben: Die gläserne Decke, an die Frauen auf dem Weg in Führungspositionen stoßen. Die baulichen Hindernisse, auf die körperlich Eingeschränkte immer noch ständig stoßen. Die soziale Unwucht, die Kindern gebildeter und wohlhabender Familien weit höhere und bessere Schul- und Ausbildungsabschlüsse und damit Lebenschancen in Aussicht stellt. Das macht vor Kirchengemeinden nicht halt. Auch wir grenzen aus.
Viel zu sehr haben wir Bedürfnissen und Erwartungen bestimmter Ziel- und Altersgruppen im Blick. Gottesdienste werden an den ästhetischen Bedürfnisse einer auf wenige Millieus beschränkten Kerngemeinde ausgerichtet. Menschen mit Behinderungen oder Einschränkungen finden wenig auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene oder zumindest angepasste Veranstaltungen. Die meisten dieser Ausgrenzungen geschehen nicht bewusst oder gar absichtlich. Im Gegenteil. Wir laden doch alle ein! Wir meinen es gut. Und schließen doch aus. Warum tun wir uns schwer mit Inklusion? Aus Unbeholfenheit? Ahnungslosigkeit? Aus Berührungsängsten? Aus der Furcht damit zu scheitern? Aus Scheu vor dem größeren Aufwand?
Riesige Inklusionsaufgabe
Ich bin davon überzeugt, dass unsere Kirchengemeinden, in Diakonie und Dorfkirche in den nächsten Jahren vor einer riesigen Inklusionsaufgabe stehen – ob sie wollen oder nicht. Denn der Teil von Gemeinde, den wir vor ein paar Jahren noch ganz selbstverständlich als Kerngemeinde bezeichnet haben ist in Auflösung befindlich und stirbt schlicht und ergreifend aus. Für uns ist das auch eine Chance, das neu zu bestimmen, was wir mit unserem inneren Auge vor uns sehen, wenn wir „Gemeinde“ sagen oder denken. Sehen wir da junge Menschen, die sich selbstverständlich im Raum von Kirche und Gemeinde bewegen? Sehen wir sozial schwächer gestellten Menschen, wie sie Raum und Heimat haben, für ihre Nöte und Sorgen, für ihr Bedürfnis nach Freude und Fest. Sehen wir behinderte Menschen und Alte, die die nötige Unterstützung erfahren, um am einem möglichst barrierefreien Leben teilzunehmen. Sehen wir alle diese Menschen sich gegenseitig bereichern und ansprechen, in regem Austausch und wechselseitiger Unterstützung.
Ich glaube, dass wir diese Inklusion brauchen. Und dass wir sie vor allem deswegen brauchen, weil die Welt die Botschaft von der Freiheit durch Jesus Christus so dringend braucht. Die Botschaft, dass wir eins sind vor unserem Schöpfer und ein Bild Gottes. Jede und jeder von uns“. Foto: Bertram Hildebrandt