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Nach mehr als einem Jahrzehnt Vorlauf haben Evangelische Kirchengemeinde Wendlingen am Neckar und BruderhausDiakonie mitten im Zentrum ein Gebäude gebaut, das zugleich der Gemeinde als auch Menschen mit Unterstützungsbedarf dient. An die ehemalige Kirche am Standort erinnert nur noch der Kirchturm, der erhalten werden konnte. Am 15. Juli 2022 war festliche Einweihung.
Kirche mitten in der Stadt
BruderhausDiakonie und Kirchengemeinde bilden eine Bauherrengemeinschaft, die ein inklusives Haus in der Stadtmitte von Wendlingen errichtet. So entstand im Gemeindezentrum ein Raum, der nicht für gemeindeeigene Veranstaltungen fest verplant ist, sondern auch anderen Initiativen, Vereinen und Einrichtungen aus dem Gemeinwesen zur Verfügung steht. Also ein offenes Haus mit Wohnen und Tagesstruktur für 23 Menschen mit Behinderung. Zugleich beherbergt das Gemeindezentrum einen gottesdienstlichen Raum in der Stadt und Gemeinderäume mit der Möglichkeit, an sieben Tagen der Woche für die Gemeinde präsent zu sein, beispielsweise mit Seelsorge, Kultur- und Bildungsveranstaltungen, Gottesdiensten oder um einfach mal zu Marktzeiten ein Angebot machen zu können. Seit Sommer 2022 bietet das Haus auf vier Stockwerken 850 Quadratmeter Nutzfläche für die Kirchengemeinde und 1430 Quadratmeter für die BruderhausDiakonie. Dabei ist der Inklusionsgedanke zentral: Teilhabe für alle – Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind und was sie mitbringen.
Im Gespräch mit Diakonin und Pfarrer
Wir führten mit Pfarrer Peter Brändle und Diakonin Bärbel Greiler-Unrath ein Gespräch über die langjährigen Erfahrungen, die die evangelische Kirche Wendlingen seit mehr als 10 Jahren im und mit dem Quartier macht.
Was heißt „Quartier“ für Sie in Wendlingen?
Wie wir Quartier abgrenzen, ist noch nicht ganz klar. Die Stadtteile sind sehr unterschiedlich. Und die Fusion der beiden Stadtteile ist noch nicht beendet. Die Stadt setzt sich aus den alten Gemeinden Wendlingen und Unterboihingen zusammen. Sie wurden in der Nazizeit zwangsfusioniert, sind nie wirklich ganz zusammengewachsen. Es gibt aber eine „künstliche Mitte“, die die beiden Gemeinden verbindet. Dort bauen wir jetzt als Kirchengemeinde zusammen mit der BruderhausDiakonie das neue Quartierszentrum. Parallel entsteht im ehemaligen Otto-Areal ein neues Wohnquartier. Dort findet Quartiersentwicklung sozusagen nach dem Lehrbuch statt, sprechen wir über einen neuen, zu entwickelnden Sozialraum.
Wie haben die Bürgerinnen und Bürger auf Abriss und Neubau reagiert?
Das neue Quartierszentrum entsteht auf dem Platz der ehemaligen Johanneskirche, die nur 60 Jahre stehen blieb. Das hat für viele Verwerfungen und Verletzungen gesorgt. Und die in manchen Köpfen noch existierenden Stadt-Grenzen eher nochmals betont. Ziel des neuen Gebäudes ist, Menschen zusammen zu führen, Identifikation zu schaffen. Im Laufe der zehnjährigen Planungs- und Umsetzungszeit haben viele handelnde Personen in der Kirchengemeinde gewechselt, das war wichtig für das Vorankommen.
Die Stadt wollte, dass der Platz nicht mit Wohnungen bebaut wird, sondern ein öffentliches, prägendes Gebäude hinkommt. Als das klar wurde, haben sich plötzlich Leute mit dem Kirchen-Gebäude identifiziert, viele waren gar keine Gemeindeglieder, manche nicht mal evangelisch. Einzelne traten sehr massiv auf. Es gab Mahnwachen und öffentlich geäußerten Protest. Sogar soweit, dass es zu einem Bürgerentscheid kam. Es sollte gegen den Abriss gestimmt werden. Allerdings verfehlte der Bürgerentscheid die notwendige Mehrheit. Das Miteinander in der Kirchengemeinde war in dieser Zeit oft mühsam. Die Spannungen zwischen Abrissgegnern und den Befürwortern des Neubaus war auch im Kirchengemeinderat zu spüren, auch im Abstimmungsverhalten. Die Stimmen der Hauptamtlichen wurden teilweise als Zünglein an der Waage empfunden. Dies war in der Kommunikation nicht immer leicht.
Was hat Ihnen die Umgestaltung erleichtert?
Den Abriss haben wir bewusst so gestaltet, dass ein versöhnlicher Abschied möglich wurde. Hier hat sich etwas gelöst. Die Kirche war 14 Tage lang täglich für eine bestimmte Zeit geöffnet, um den Abschied vom vertrauten Gebäude zu ermöglichen. Die Angebote zum Gespräch und ein täglicher liturgischer „Ausklang“ wurden von vielen Menschen wahrgenommen. Beim Abschluss auf dem Vorplatz der Kirche war es für alle ein bewegender Moment, als das Kreuz aus der Kirche getragen wurde. Auch deshalb, weil in diesem Moment zwei Kondensstreifen am Himmel ein Kreuz bildeten und eine Taube, als wäre es eine Friedenstaube, vorbeiflog. Das alles war und ist immer noch ein Trauerprozess. Man kann das ja auch gut verstehen, denn es gibt viele Gemeindeglieder und Bürger*innen, die als Vertriebene schon einmal ihre Heimat verloren haben. Ihre allererste Kirche, die sie nach ihrer Ankunft nutzen durften, war vor vielen Jahren auch schon abgerissen worden und dafür die Johanneskirche gebaut worden – auch mit ihren Spenden. Die sind damals richtiggehend erneut vertrieben worden durch den Abriss der ersten kleinen Kirche – das hat sie natürlich geprägt. Und so wird das auch heute wieder von manchen empfunden. Die jetzt bis auf den Turm abgerissene Johanneskirche war zeltartig gestaltet. Das sollte schon damals deutlich machen: Kirche geht mit uns und ist unsere Heimat. Deshalb steckt in dem Abriss viel Emotion drin, die ist auch noch nicht ganz weg. Noch sind nicht alle derjenigen Kirchenmitglieder zurück, die nach Bekanntwerden der Pläne abgesprungen waren. Aber die ersten, die damals sehr verletzt waren, sind jetzt wieder da.
Was ist das neue Quartierszentrum für Sie?
Es ist Chance und Bürde zugleich. Manche Gemeindeglieder unterstützen das Projekt durch ihre Spende, obwohl sie noch immer verletzt sind. Die Fassadensteine der alten Kirche wurden jetzt an der Fassade des neuen Gemeindezentrums angebracht und durch neue Steine ergänzt, um die Erinnerung an die Johanneskirche zu bewahren. Die ganze Emotionalität, die wir erlebt haben, ist auch positiv, es ist nicht nur Schweres. Vor allem seit der Abriss-Entscheidung ist vieles geklärt, nachdem über viele Jahre alles noch theoretisch, in der Planungsphase war. Viele haben die Haltung, dass es nur besser werden kann. Nachdem der Gottesdienstbesuch in der Vergangenheit eher spärlich gewesen war, erleben wir hier wieder mehr Interesse, Verbindlichkeit und ein Zugehörigkeitsgefühl. Es geht uns aber nicht darum, das alte Gemeindeleben eins zu eins hinüber zu nehmen. Es geht um einen bewussten Umgang mit Veränderungen. Auch deshalb, weil wir mit der Bruderhausdiakonie einen Kooperationspartner auf Augenhöhe haben. Und auch viele ältere Gemeindeglieder sonst bei den vielen Veränderungen einfach nicht mitkommen
Wie kam es überhaupt zu dem ganzen Prozess?
Initialzündung war gewesen, dass man die Kirche hätte aufwendig sanieren müssen. Die Aufgabe der Kirchengemeinde war darauf hin, mit der Fusion der beiden Kirchengemeinden Wendlingen und Unterboihingen ein schlüssiges zukunftsfähiges Gebäudekonzept zu entwickeln. Statt abzureißen hätte man aus der Kirche ja auch alles Mögliche machen können, zum Beispiel eine Kulturkirche. Die Konzentration auf die Bausubstanz hat etwas in die Enge geführt, deshalb wurde nicht so frei und weit gedacht, wie es möglich gewesen wäre. Aber der Neubau war absolut nicht alternativlos und das neue Gebäudekonzept hat viele Abschiede erfordert. Beide Gemeindehäuser wurden an die Stadt Wendlingen verkauft, um als Kindergärten weiterverwendet zu werden. Auch das Pfarrhaus in der Uhlandstraße ist inzwischen veräußert. Die ehemalige Lauterschule wurde deshalb vor neun Jahren zum Gemeindehaus-Provisorium. Die alte Eusebiuskirche und das dazugehörige Pfarrhaus im Städtle waren die einzigen Gebäude, die nicht zur Disposition standen.
Wie soll das neue Quartier mit dem Neubau in der Mitte jetzt gestaltet werden?
Wir fokussieren uns auf die Stadtmitte, denn da findet ja das Leben statt – und wir sind als Kirche damit mittendrin im Sozialraum. Die Vereine und andere wissen, dass das Gebäude kommt und auch ihnen Raum bietet. Auch Privatpersonen können es nutzen und es gibt erste Ideen für einen Mittagstisch für Alleinlebende und Senioren. Das beginnt alles im Moment erst, wir sind noch nicht offensiv auf die ganzen Player zugegangen. Priorität hat jetzt, das Gemeindeleben unter dem neuen Dach zu organisieren. Auch muss man schauen, wie man das Zusammenleben mit den Bewohnerinnen und Bewohnern der BruderhausDiakonie gestaltet. Hier entwickelt sich alles erst, da ist auch für uns vieles im Moment noch Neuland.
Viele Gemeindegruppen haben das Gemeindehaus-Provisorium neun Jahre als Exil erlebt. Die brauchen unser Signal, dass sie auch im neuen Haus wieder ihren Platz bekommen und gestalten können. Deshalb sind wir vorsichtig, zu schnell zu viel für externe Gruppen zu öffnen. Es gibt aber das „Forum der Möglichkeiten“, das sich direkt zum Marktplatz hin öffnet. Hier können wir schnell in die Vermietung gehen und es kommen auch schon erste Anfragen.
Wie wird Inklusion und Diakonie in Wendlingen gelebt?
Wendlingen ist eher ein großes Dorf als eine Stadt und hat einen attraktiven Wochenmarkt. Wenn man aus unserem neuen Quartierzentrum schaut, ist der Bürgertreff gleich gegenüber und man sieht viele Senioren an der zentral gelegenen Eisdiele. Es gibt einen Diakonieladen, der aus unserer Sicht aber in der Öffentlichkeit zu wenig wahrnehmbar ist. Wendlingen ist für den Kreisdiakonieverband fast so etwas wie ein weißer Fleck, man hat diakonische Arbeit hier bislang eher selbst organisiert. So haben wir beispielsweise keine eigene Diakoniestation, sondern eine kommunale Sozialstation. Die Zieglerschen sind mit einem großen Pflegeheim vor Ort. Die Samariterstiftung ist mit der Werkstatt am Neckar im Industriegebiet angesiedelt.
Eine Traum von uns ist, in unserem neuen Gebäude ein inklusives Café aufzubauen, daran hat auch die Stadt Interesse. Hier wäre das Forum der Möglichkeiten gut geeignet, müssen wir aber noch mit der BruderhausDiakonie sprechen, ob dort eben auch Menschen mit Behinderung dann arbeiten könnten. Es fehlen uns da einfach noch die entsprechenden Erfahrungen als Kirchengemeinde. Wir sind auch am Thema Regenbogengemeinde dran, öffnen uns für Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen. Wir sehen Inklusion breit und weit über die Integration von Menschen mit Behinderungen hinaus. Inklusion ist eine Haltung, von der wir uns wünschen, dass sie sich bei den Menschen weiter durchsetzt. Hier muss man noch viel erklären, auch über Ängste reden – und es braucht auch Ressourcen wie eine langfristig eingerichtete Diakonen-Stelle, um diese Entwicklung weiter intensiv begleiten zu können. Denn die Gefahr ist, dass man zu viel anstößt und manche Menschen damit überfordert. Hier müssen wir mit unseren diakonischen Partnern noch stärker ins Gespräch gehen.
Was ist das Geheimnis Ihres Erfolgs?
Manchmal grenzt es schon an ein Wunder, dass wir das so lange durchgehalten haben. Wichtig war dabei, dass wir früh ein Bild hatten von dem, was später einmal sein kann und dass dies nur in einer guten Einbindung ins Gemeinwesen lebbar ist. Unsere Form der gemeinsamen Quartiersentwicklung funktioniert, weil Kirche und Stadt gut verbunden sind, alle von Anfang an gut mit einbezogen waren. Hier sind viele Faktoren zusammengekommen. Aus einem früheren reinen Bauprojekt ist jetzt ein inhaltliches Vorhaben in Form von Quartiersentwicklung und Gestaltung geworden. Es ist uns gelungen, die Gemeinde dabei mitzunehmen. Sie hat verstanden, dass es ein gemeinsames Projekt vieler kirchlicher, diakonischer und auch kommunaler Akteure ist.