So bekomme ich den Fuß ins Quartier: Menschen mit Behinderungen „erobern“ die Wendlinger Bücherei

Wie geht denn das: ein Buch über Hunde oder ein Comic ausleihen? Danach fragen, wo die Bücher stehen, die in leichter Sprache geschrieben sind? Oder einen Film, den ich ausgeliehen habe, wieder zurückgeben? Ganz praktische Fragen, die Menschen mit Behinderungen, die seit kurzer Zeit im Wendlinger Unterstützungszentrum der BruderhausDiakonie leben, stellen. Bei einem Training im Rahmen von „Impulse Inklusion“ in Kooperation mit dem Projekt „Aufbruch Quartier“ haben sie jetzt geübt, wie das geht, den Sozialraum zu erobern und Kontakte in der Wendlinger Stadtbibliothek zu bekommen. Rund 25 Menschen mit Einschränkungen leben jetzt in einem Haus, das unter dem Titel Johanneforum auch einen Gottesdienstraum, die evangelische kirchliche Verwaltung und einen Quartiersraum beherbergt. „Für mich war heute alles gut und ich weiß jetzt endlich, dass und wo es hier eine Bücherei gibt“, freut sich Simone.

Mertay hat schon nach wenigen Minuten die Spiderman-Comics entdeckt und kann sich kaum davon lösen

Man kommt auch ohne Ausweis in die Bücherei

„Auch ich wusste gar nicht, das es hier eine Bücherei gibt“, sagt Jeanette, die im Rollstuhl sitzt und glühender Fan von „Tokyo Hotel“ ist. „Toll war für mich, wass wir alles angeschaut haben ich jetzt weiß, was es alles auszuleihen gibt“. Zuvor hatte die Bücherei-Leiterin Ehrmann erklärt, dass man sich auch ohne Ausweis in den hellen Räumen aufhalten kann, eben nur nichts mit nach Hause nehmen. Nach dem Training bekamen alle aber einen Ausweis, den sie gleich vor Ort unterschrieben und der jetzt eine unbegrenzte Ausleihe ermöglicht.

Jeanette unterhält sich gleich an der Infotheke mit der stellvertretenden Leiterin der Bibliothek und zeigt keinerlei Berührungsängste

Ein großer Schritt in Richtung Quartiers-Selbständigkeit

„Was haben Sie denn für elektronische Geräte und kann ich jetzt gleich was aussuchen?“ will Simone wissen. „Kann man die Bücher auch kaufen?“ will sie wissen und bekommt die Antwort, dass das natürlich nicht möglich ist. Nebenan hat Mertay schon die Spiderman-Comics entdeckt und lacht vergnügt, als der die aufwändigen Illustrationen betrachtet. Für ihn als Autisten ein Riesenschritt, so aus sich raus gehen zu können. Jeanette ist mittlerweile mit dem Aufzug einen Stock nach oben gefahren und hat es sich auf den Sofas mit ihrer Lektüre gemütlich gemacht.

Heilerziehungspflegerin Nilgün Baki ist sich sicher: „Dieser Tag hat sie ein Stück näher gebracht, selbstständig im Quartier Fuß zu fassen.“ Auch die Referenten des Diakonischen Werks Württemberg, Bernd Schatz und Wolfram Keppler, die für das Training verantwortlich sind, zeigen sich beeindruckt, wie wenig es eigentlich braucht, um die Angebote in der Nachbarschaft zu entdecken und aufzuschließen. Aber es brauche genügend Fachkräfte vor Ort, die Zeit und die Ausbildung dafür haben, Menschen mit Behinderungen kompetent in die Nachbarschaften zu begleiten und sie zu befähigen, nach Möglichkeit langfristig auch alleine unterwegs sein zu können.

Direkt vor dem Johannesforum gibt es seit neuestem einen gut ausgestatteten Bücherschrank. Erste Begegnungen beim gemeinsamen Stöbern….

Im Quartier leben heißt die Nachbarschaft entdecken

Hintergrund des Sozialraum-Trainings unter dem Motto „Den Fuß ins Quartier bekommen“ ist, dass Menschen mit Behinderungen gemeinsam üben müssen und Tipps brauchen, damit sie sich gut mit den Bürgerinnen und Bürgern, unter denen sie vor Ort jetzt immer mehr leben, verbinden können. So heißt es in der Beschreibung zum Vorhaben, das über das Programm „Impulse Inklusion“ von der Landesregierung und über „Aufbruch Quartier“ von der Evangelischen Landeskirche in Württemberg unterstützt wird: „Wir alle haben Nachbarn. Wenn wir aus dem Haus gehen, gibt es die Bäckerin, den Friseur und um die Ecke auch den Sportverein. Oder vielleicht die Kirche. Das alles gehört zum Quartier. Wenn wir in unserem Quartier unterwegs sind, treffen wir auf andere, die auch dort wohnen. Man kann in einen Laden gehen, im Verein mitspielen, in eine Bar gehen oder auch in den Gottesdienst.“

Mertay und Simone zeigen stolz ihre Bibliotheksausweise, die sie gerade unterschrieben haben

Am besten ist es, einfach loszulegen und auszuprobieren

„Das klappt am besten, wenn man gut auf Menschen zugehen kann. Es ist schön, was zusammen zu machen und Spaß zu haben. Man fühlt sich gut fühlt und kriegt Kontakte. Was es braucht, um den Fuß ins Quartier zu bekommen, wollen wir gemeinsam üben. Nach einem gemeinsamen Start und ersten Überlegungen, was wir gut können und was uns bei der Begegnung mit den Menschen im Ort, in der Stadt erwartet, legen wir los: Wir gehen raus vor die Tür, probieren aus und lösen kleine Aufgaben. Wir fragen nach dem Weg. Wir klingeln bei der Pfarrerin. Wir fragen, ob wir im Chor mitsingen dürfen – oder wir gehen in öffentliche Räume wie etwa eine Bücherei. Dabei helfen uns Menschen, die mit uns unterwegs sind. Wir sprechen darüber: was hat geklappt? Warum hat es vielleicht nicht geklappt? So geht echte Teilhabe!“

Vor dem Eingang der Stadtbibliothek. Der Weg vom Unterstützungszentrum ist nicht weit

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