Aus einer Exkursion nach Wien nehmen Teilnehmende aus württembergischer Kirche und Diakonie mit, dass es „Brückenmenschen“, Augenhöhe und langen Atem braucht
Dass Kirche und Diakonie eine wichtige Rolle haben bei der Mitgestaltung von Quartieren vor Ort, davon sind die Evangelische Landeskirche und ihre Diakonie in Württemberg überzeugt. Beim gemeinsamen Projekt „Aufbruch Quartier“ geht es darum, herauszufinden, was die Akteure vor Ort brauchen, damit sie bei der Ausgestaltung eines guten, inklusiven Lebens wirksam sein können. Aber wie machen das andere? Welche Erfahrungen gibt es in anderen Ländern mit vergleichbaren Sozialsystemen? Dies herauszufinden und dabei neue Impulse zu bekommen, war das Ziel einer Erasmus-Studienreise nach Wien. Mit dabei: Mitarbeitende aus Diakonie, evangelischer Landeskirche und Evangelischen Senioren, die als Beratende und Umsetzende Quartiere und Nachbarschaften – aber auch sozialen Wohnungsbau – im Fokus haben. Am Ende der Exkursion stand die Erkenntnis, dass wir in Württemberg schon gut aufgestellt sind in Sachen Quartiersentwicklung und gut mithalten können, was Nachhaltigkeit und Innovation betrifft.
„Wir müssen uns anstrengen, wenn wir aktiv mitgestalten wollen“
Die 17 Teilnehmenden besuchten Projekte, Initiativen, Dienste und Einrichtungen, die bereits in der Quartiersentwicklung und Gestaltung von Nachbarschaften aktiv sind. Besonderes Augenmerk lag dabei auf der kirchlich-diakonischen Zusammenarbeit, die auch das württembergische Projekt Aufbruch besonders im Blick hat. Deutlich wurde: Quartier geht nicht von allein und lebt von einer guten Durchmischung. Die Unterstützung des Zusammenlebens im Quartier braucht kontinuierliche und dauerhafte Moderation und Begleitung. „Die Annahme, dass nach zwei Jahren ein Selbstläufer auf den Weg gebracht werden kann, ist eine Illusion“, so ein Teilnehmer. Wichtig ist, dass Quartiersarbeiterinnen- und Arbeiter schon in der Planung dabei und auf Augenhöhe im Kontakt sind. „Für eine Quartiersentwicklung der Zukunft braucht es Brückenmenschen, also Menschen, die Ideen aufgreifen und weitertragen, verbinden, konfliktfähig sind und Stellung beziehen“, so eine andere Teilnehmerin. Dabei gelte es, die Möglichkeiten von Kirche und deren Wohlfahrtsverbänden genau anzuschauen: „Ich habe gelernt, bescheiden zu sein, was unsere Möglichkeiten, die Menschen in den Quartieren zusammen zu bringen, betrifft. In Wien habe ich gemerkt, dass die zivilgesellschaftlichen Akteure es auch gut ohne uns hinbekommen und wir uns hier mehr anstrengen müssen, wenn wir Gesellschaft mitgestalten möchten“.
Soziale Nachhaltigkeit als eine der Säulen österreichischer Quartiersentwicklung
Die Exkursion in die österreichische Hauptstadt hat – auch dank „vieler guter Gespräche und gelebter kirchlich-diakonischer Vernetzung“ – Spuren hinterlassen. Insbesondere der Besuch der Baptistengemeinde dank eines charismatischen Pastors und der motivierenden Gestaltung von Nachbarschaften. „Die Persönlichkeit, als Motivator für andere, als jemand der auch ins Risiko geht, beispielsweise mit seinem Caféhaus und seine Mission, Leben zu teilen und die Menschen zusammen zu bringen“ hat diesen Teilnehmer beeindruckt. Zugleich hat eine andere Besucherin gemerkt: „Kirche und Spiritualität haben in den meisten Quartieren keine wirkliche Bedeutung gespielt und waren auch bei Caritas und Diakonie nicht im Blick – das hat mich aufgerüttelt“. Spuren hinterlassen hat auch auch „die schöne neue Welt der Neubauquartiere. Gepflegt. Sauber. Geordnet. Fußballspielen und andere Bewegungstätigkeiten verboten“.
Abschiebungen mitten aus dem Quartier machen nachdenklich
Beeindruckend war die Internationale Bauausstellung: „Ich war überwältigt, wie gründlich und sorgfältig die Konsequenzen von Architektur vorüberlegt und gedacht werden. Und dass soziale Nachhaltigkeit eine der immer wieder genannten Säulen der Quartiersentwicklung ist“. Nachdenklich hat die Füchtlingsunterkunft „Macondo“ am Rand der Stadt gemacht, auch weil dort die Diakonie trotz fehlende Anbindung an ein Stadtquartier gute Arbeit für Geflüchtete aus aller Welt bei Lebenshilfe und Integration macht. Als schwierig wurde die Abschiebehaft mitten in der nahe dem Flughafen gelegenen Unterkunft Flüchtlingsunterkunft erlebt: „Dort, wo Menschen zumindest auf Zeit auf Integration vorbereitet werden, finden retraumatisierende Abschiebungen mitten unter ihnen statt“.
Das Besuchsprogramm im Überblick
Der erste Tag führte zum Projekt „Wildgarten“ und der Caritas Stadtteilarbeit. Hier setzt die Caritas Wien aktiv neue Akzente in Quartiersentwicklung und sozialem Wohnungsbau. Nachhaltigkeit bezieht sich hier schon lange nicht mehr nur auf den ökologischen Aspekt, sondern besonders auch auf die soziale Nachhaltigkeit. Darunter wird vor allem die Einbindung der Bedürfnisse der Nutzer verstanden: Wie müssen Gebäude, Nachbarschaft und Umgebung aussehen, damit sie sich auch wohl fühlen? Welche Angebote, wie beispielsweise „Community cooking“ sind dafür geeignet?
Auf dem Programm des zweiten Tages standen ein Besuch der IBA-Dauerausstellung und einer qualifizierten Führung durch ein Musterquartier mit Bauherren und Quartiersverantwortlichen. Hauptinteresse war dabei, wie Inklusion und generationenübergreifendes Wohnen geht und welche Rolle die Kirchen bei den dortigen Bauvorhaben spielen. Am Nachmittag schloss sich eine Besichtigung des Quartiers Wolfganggasse an. Das Wohnungsangebot dort geht besonders auf unterschiedliche Lebenssituationen ein. Sowohl für Jung als auch für Alt stehen bezahlbare Wohnungen zur Verfügung. Dabei ist vor allem die wachsende Gruppe der Alleinerziehenden in Wien wichtig. Für sie wird es ein maßgeschneidertes Angebot geben.
Am dritten Tag war zunächst der Donauhof der Baptistengemeinde Anlaufpunkt. Die dortige Gemeinde bietet diakonische Angebote in Form von Sozial- und Innovationsprojekten zwischen Wohnen und Kirchen-Lebens-Bereicherung. Parallel entsteht zur Zeit ein Event-Raum mit Kaffeehaus, 2Coworking-space“, “Start-up-Kultur“ und Werkstätten. Die Diakonie Wien macht am Gemeinwesenorientierte diakonische Sozialarbeit ohne Rück- und Einbindung in ein kirchlich-evangelisches Milieu. Dort traf sich die Gruppe mit Verantwortlichen für Geflüchtete aus aller Welt. Bei „Macondo“ leistet die Diakonie bereits seit Jahrzehnten Migrations- und Integrationsarbeit. Mit dem Projekt „Plaudertischerl“ versucht der Verband, etwas gegen steigende Einsamkeit zu tun und erreicht vor allem auch auf digitalem Weg viele Menschen, die Kontakt suchen.
Wolfram Keppler, Aufbruch Quartier